Vor etwas weniger als einem Jahr kam es in Deutschland zu einer der schlimmsten Flutkatastrophen in der Geschichte des Landes. Mehr als 180 Menschen starben. Nun steht die nächste Hochwassersaison bevor. Was hat Deutschland aus 2021 gelernt? Viola Wohlgemuth und Karsten Smid, Campaigner:innen bei Greenpeace Deutschland, geben Antworten.

Viola, du warst bei der Hochwasserkatastrophe 2021 vor Ort und hast bei den Aufräumarbeiten geholfen – was haben sich dir für Bilder geboten?

Die ersten Eindrücke waren einfach surreal. Solche Bilder kannte ich bisher nur aus dem Fernsehen, aus Krisenregionen irgendwo weit weg. Aber nicht aus Europa, nicht mitten in Deutschland. Strassen waren aufgebrochen, die Häuser unterspült, die Leitungen hingen wie Gerippe aus den Böden. Da war ein Haus beispielsweise völlig zerstört durch die Schlammflut, alle Fenster offen, das gesamte Hab und Gut der älteren Bewohnerin verklebt zu einer stinkenden, trocknenden Schlammkruste. Ihr war buchstäblich nichts geblieben als die Kleidung, die sie trug. Sie erzählte mir, dass ihr Mann vor einem Jahr gestorben sei und nun alle Erinnerungen, die sie noch an ihn hatte, verloren waren. Sie war völlig allein und hatte keine Hoffnung, ihr Zuhause je wieder bewohnbar zu bekommen.

Was war das für ein Gefühl, das Ausmass der Zerstörung mit den eigenen Augen zu sehen und hautnah zu erleben?

Ein Wechselbad der Gefühle. Ohnmacht vor dieser unglaublichen Naturgewalt. Wir als Menschen sind so klein und glauben, mit solchen Gewalten spielen zu können. Unglaubliches Mitleid mit den betroffenen Menschen. Und Beschämung, dass ich am Abend in meinem eigenen Bett schlafen konnte. Vor allem aber Wut! Wut auf Konzerne und ignorante Politiker:innen, die seit Jahrzehnten mit Profitgier solche Katastrophen in Kauf nehmen und weiterhin nicht umdenken wollen.

Karsten, inwiefern stehen diese Hochwasser in Zusammenhang mit der Klimakrise?

Die Klimakrise erhöht die Intensität der maximalen Niederschläge im Sommer. Die Wahrscheinlichkeit, dass es in Westeuropa zu sintflutartigen Starkregenfällen kommt, hat sich um den Faktor 1,2 bis 9 erhöht. Das ist eine dramatische Steigerung.

Eine Aufnahme aus dem Ahrtal im Februar 2022. Zwischenzeitlich sind sieben Monate seit den Überschwemmungen vergangen. Noch immer sind viele Häuser nicht bewohnbar, und die Region gleicht einem Trümmerfeld. © DOCKS Collective

Welche Auswirkungen hatte das Hochwasser auf die Umwelt der Region?

Diese Hochwasserkatastrophe hat allein Schäden in Höhe von 30 Milliarden Euro hinterlassen. Durch das ganze Ahrtal zieht sich eine Spur der Verwüstung. Bis sich die Natur regeneriert, wird es noch Jahre dauern.

Seit Dezember 2021 hat Deutschland nun eine neue Regierung – was bedeutet sie für das Thema Klimaschutz in Deutschland?

Wir sehen aktuell einen Aufbruch bei Investitionen in Sonnen- und Windenergie. Das Wirtschaftsministerium macht hier richtig Tempo. Voraussichtlich werden wir aber das anvisierte Klimaziel für das Jahr 2022 wieder verfehlen. Das ist für uns inakzeptabel.

Was fordert Greenpeace Deutschland also konkret von der Ampelkoalition aus SPD, Grünen und FDP?

Wir brauchen einen Kohleausstieg bis spätestens 2030, der jetzt eingeleitet werden muss. Schon jetzt können wir dreckige Braunkohlekraftwerke je nach Bedarfslage drosseln, damit die Treibhausgase in Deutschland endlich sinken. Auch müssen wir in den nächsten Jahren bereits den Neueinbau von Öl- und Gasheizungen auslaufen lassen – wie es die skandinavischen Länder vorgemacht haben. Und ein Ausstieg aus dem Verbrennungsmotor bei neuen Autos ist bis 2030 unabdingbar. All das muss einhergehen mit einer Offensive für den Ausbau von sauberen erneuerbaren Energien.

Zwei Monate nach der Flut sitzt Iris Baumann in den Ahr-Thermen, ihrem ehemaligen Arbeitsort. Eine Wiedereröffnung ist unwahrscheinlich. © DOCKS Collective

Viola, bald ist es nun ein Jahr her, dass das Hochwasser ganze Dörfer zerstört hat – wie ist die Situation aktuell vor Ort?

Das kommt auf den Ort an, einige Strassen mit kleineren Schäden sind wiederhergestellt worden. An anderen Orten, gerade im Ahrtal, sind mehrere zerstörte Häuser einfach abgerissen worden. An einigen Orten dürfen die Häuser gar nicht erst wieder aufgebaut werden, da zukünftig wieder solche katastrophalen Regenfälle erwartet werden.

Befürchtet ihr also, dieselben Bilder auch im Sommer 2022 nochmals sehen zu müssen? Oder hat Deutschland und vor allem die Regierung aus der Katastrophe gelernt?

Karsten: Wir werden zukünftige Hochwasserereignisse nicht verhindern können. Wir müssen unsere gesamte Infrastruktur auf neue, nie da gewesene Extremereignisse anpassen. Eine gigantische Aufgabe. Denn die Macht und die Zerstörungskraft dieser klimabedingten, unerwarteten Ereignisse werden eklatant unterschätzt. Das führte bisher ja erst zu den Katastrophen.

Viola: Was mir aber wirklich Hoffnung macht, sind die Menschen, die aufstehen und etwas verändern, auch direkt vor Ort. Wie die Initiative «Aus Ahrtal wird Solahrtal», die sich aufgemacht hat, die Politiker:innen in der Region und im Bundesland zu überzeugen, keinen Cent der Aufbaugelder in alte Technologien zu stecken wie Gasleitungen. Sondern gleich in eine klimaneutrale, zukunftsfähigere Region zu investieren. 100 Prozent erneuerbare Energien bis 2030 für ihre Region fordern sie deswegen in ihrer Initiative. Das ist die Zukunft.

Der Alltag kehrt ins Ahrtal zurück: Kinder nehmen in einer provisorisch aufgebauten Halle den Kampfsportunterricht wieder auf. © DOCKS Collective

Bilder: DOCKS ist ein Kollektiv von fünf Dokumentarfotograf:innen aus Dortmund, das 2018 gegründet wurde. Für die Gruppe ist die kollaborative Arbeit eine Methode, die es ihnen ermöglicht, die klassische egozentrische Perspektive der Dokumentarfotografie auszusetzen und zu hinterfragen. Das Kollektiv steht für vielfältige und zeitgenössische Ansätze basierend auf humanistischen Werten.


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