Am 2. Oktober sind rund 160 Millionen Brasilianer:innen aufgerufen, einen Präsidenten zu wählen; außerdem einen neuen Kongress sowie neue Länderparlamente und Gouverneure. Es ist das, was man als Richtungswahl bezeichnet. Mit Bolsonaro und Lula konkurrieren vollkommen verschiedene Vorstellungen von Brasilien miteinander. Sie betreffen auch und vor allem die Umweltpolitik, insbesondere den Umgang mit Brasiliens riesiger Amazonasregion und seinen indigenen Völkern.

Glaubt man den Umfragen, dann liegt der ultrarechte Amtsinhaber Jair Bolsonaro im Rennen um die Präsidentschaft deutlich hinter seinem Herausforderer, Ex-Präsident Lula da Silva von der linken Arbeiterpartei (PT). Keiner der anderen Kandidaten spielt eine wesentliche Rolle. Spätestens im zweiten Wahlgang Ende Oktober würde Lula zum neuen alten Präsidenten Brasiliens gewählt. Er regierte Brasilien bereits von 2003 bis 2011.

Die Regierung Bolsonaros, ein ultrarechter Hauptmann der Reserve, wäre damit beendet. Doch er hinterlässt ein toxisches Erbe für die Umwelt. Insbesondere für die Amazonasregion und Brasiliens indigene Völker waren die vergangenen vier Jahre katastrophal.

Wirtschaft vor Umweltschutz

Schon vor seinem Amtsantritt 2019 hatte Bolsonaro keinen Hehl aus seiner Verachtung für den Umweltschutz und Brasiliens Ureinwohner:innen gemacht. Seine Ablehnung betraf auch traditionelle ländliche Gemeinschaften wie Kleinbauern, Fischerinnen, Quilombolas (Nachkommen von Sklaven) und Extraktivistinnen (sie leben vom Sammeln der Früchte des Waldes).

Die Haltung hat mit Bolsonaros antiquierter Vorstellung von ökonomischem Fortschritt zu tun. Für ihn sind Umweltschutz und wirtschaftliche Entwicklung ein Widerspruch. Dort, wo Wald existiert, kann es keine Entwicklung geben und vice versa. Es ist ein Modell, das auf Wachstum durch rücksichtslose Ausbeutung der Natur beruht. Traditionelle Gemeinschaften, die nachhaltig und ressourcenschonend produzieren, kommen darin nicht vor, da sie als unproduktiv und somit überflüssig und hinderlich betrachtet werden.

Eine Projektion in New York im Vorfeld von Bolsonaros Besuch am UN Assembly. © Ken Schles / Greenpeace

Die Bolsonaro-Regierung bevorzugte folglich in ihren Gesetzesvorhaben die für den Export produzierende Agrarwirtschaft sowie die Minenindustrie, welche die Bodenschätze im Amazonasbecken ausbeuten will. Ihre Gesetzesprojekte zielten häufig darauf ab, die Indigenenreservate für die wirtschaftliche Ausbeutung zu öffnen. Laut der Initiative «Marco Temporal» sollen beispielsweise nur noch Gebiete als Reservate ausgewiesen werden, auf denen zum Zeitpunkt der Verkündung der brasilianischen Verfassung am 5. Oktober 1988 Indigene lebten. Das Vorhaben wird derzeit vom Obersten Gerichtshof Brasiliens geprüft. Es würde zahlreichen indigenen Gemeinschaften die Möglichkeit nehmen, das Land ihrer Vorfahren zu beanspruchen und so gut wie alle Prozesse zur Ausweisung neuer Reservate stoppen.

Waldvernichtung kurz vor Wahl auf Höhepunkt

In Bolsonaros Amtszeit hat die Waldvernichtung jedes Jahr neue Rekordwerte erreicht – und sich nun kurz vor den Wahlen noch einmal erheblich beschleunigt. Offenbar wollen die Verbrecher:innen Fakten schaffen, bevor eine neue Regierung ins Amt kommt.

Rund drei Monate vor dem Jahresende wurden bereits mehr Waldbrände festgestellt als im gesamten Jahr 2021. Brasiliens Weltraumagentur (Inpe) erfasste mit ihren Satelliten zwischen Januar und August 75 592 Brände, während es im gesamten Vorjahr «nur» 70 090 Brände waren. Allein in der ersten Septemberwoche zeichnete die Inpe 18 400 Feuer auf – mehr als im gesamten September 2021 zusammengenommen. Die Brände entstehen meist als Folge der Abholzung: Wurden aus einem Gebiet die verwertbaren Bäume herausgeholt, beseitigt man die restliche Vegetation per Feuer. Die Brände fressen sich häufig unkontrolliert weiter in den Wald hinein. 

Im brasilianischen Porto Velho brennt es im Juli 2022 tagelang. © Nilmar Lage / Greenpeace
Die Feuer werden unter anderem gelegt, um Land für beispielsweise die Viehzucht freizulegen. © Victor Moriyama / Amazônia em Chamas

Die Waldfläche, die insgesamt in vier Jahren Bolsonaro vernichtet wurde, beträgt laut Institut für Mensch und Umwelt in Amazonien (Imazon) rund 25 000 Quadratkilometer, das entspricht mehr als der Hälfte der Schweiz. Damit ist die Abholzung zwar geringer als noch in den 1990er und frühen 2000er-Jahren, als der Sojaanbau in Brasilien massiv ausgeweitet wurde. Aber es ist ein drastischer Anstieg im Vergleich zu den Jahren ab 2006, als die Abholzung immer weiter absank, ehe sie ab 2012 wieder leicht stieg und nach 2018 dann regelrecht explodierte.

Die Abholzung hat auch Folgen für Brasiliens Klimabilanz. Das Land ist heute der fünftgrößte Verursacher von Treibhausgasemissionen, wobei 80 Prozent dieser Emissionen auf veränderte Landnutzung zurückzuführen sind. «Der gesamte südliche Amazonas steht kurz davor, ein völlig degradiertes Ökosystem zu werden», sagt Carlos Nobre, einer der weltweit führenden Klimaforscher. «Brasilien ist derzeit das Land mit den höchsten Abholzungszahlen», fügt er an. «Ein großer Teil des südlichen Amazonasgebiets ist heute keine Kohlenstoffsenke mehr, sondern eine Quelle von Kohlenstoffemissionen.»

Gewalt gegen Indigene keine Seltenheit

Parallel zur Waldzerstörung haben unter Bolsonaro auch die Angriffe auf Brasiliens Indigenenreservate zugenommen. Goldgräber, Holzfällerinnen, illegale Jäger und Fischerinnen, Viehzüchter und Getreidebäuerinnen sind immer ungenierter in die eigentlich streng geschützten Gebiete eingedrungen. Dabei kam es häufig zu Gewalt gegen Indigene, etwa in Parque Yanomami, einem der größten Reservate Brasiliens.

Dort halten sich heute schätzungsweise 20 000 illegale Goldsucher:innen auf. Hinter ihnen stehen mächtige Interessen, die die Arbeiter:innen mit Baggern, Pumpen und Propellermaschinen ausstatten. Besonders schädlich ist der Einsatz des hochgiftigen Schwermetalls Quecksilber bei der Goldwäscherei. Zahlreiche Amazonasflüsse weisen heute besorgniserregende Quecksilberwerte auf. Über die Fische gelangen sie auch in den menschlichen Organismus, weswegen in zahlreichen Flussgemeinden in Amazonien kaum noch Fisch gegessen wird.

Bolsonaro hat die Eindringlinge immer wieder verteidigt. Er behauptet, dass die Indigenen den Bergbau und die Agrarindustrie auf ihrem Land befürworteten, um notwendiges Einkommen zu schaffen. Doch die Yanomami beispielsweise haben dies immer wieder bestritten. Sie sagen, sie wollen selbst über ihr Land bestimmen, – so wie man es eigentlich immer von den Indigenen hört. Sie beschuldigen Bolsonaro, die Kriminellen zu ermutigen.

Indigene Aktivist:innen protestieren 2022 gegen den illegalen Bergbau in ihren Reservaten. © Tuane Fernandes / Greenpeace
Die Aktivist:innen zeigen in ihren Protesten das Leiden auf, das durch illegalen Bergbau hervorgerufen wird. © Tuane Fernandes / Greenpeace

Tatsächlich hatte Bolsonaro schon vor seinem Wahlsieg der Industrie versprochen, dass unter ihm kein einziges neues Reservat ausgewiesen werde. Daran hat er sich gehalten. Seine Begründung: Es gebe in Brasilien zu viel Land für wenig Indios.

Die zunehmende Bedrohung von Brasiliens Ureinwohner:innen, ihrer Lebensweise und ihren Territorien gehört sicherlich zu den größten Tragödien der vergangenen vier Jahre – auch für den Umweltschutz. Brasiliens Indigenenreservate machen fast 14 Prozent der Landesfläche aus, dort leben rund 650 000 der etwa eine Million erfassten Ureinwohner:innen. Nirgends ist die Natur heute intakter, nirgends das Wasser sauberer und die biologische Vielfalt größer. Während in den Reservaten seit 1985 nur 1,6 Prozent an Waldfläche verloren ging, waren es in manchen Amazonas-Bundesstaaten zwischen 20 und 30 Prozent. Die Reservate sind also Bollwerke gegen die Umweltzerstörung.

Vier Jahre Umweltzerstörung

Was auf Brasilien unter Bolsonaros zukommen würde, zeichnete sich bereits früh ab. In Bolsonaros erstem Amtsjahr wüteten verheerende Feuer in der Amazonasregion. Die Holzfäller, Viehzüchterinnen, Großbauern und die Landmafia (sie besetzt öffentliches Land, rodet es und verkauft gefälschte Landtitel), die hinter den Feuern steckten, gehören zu Bolsonaros treuesten Wähler:innen. Sie betrachtete seinen Wahlsieg als Freibrief, um neue Flächen zu okkupieren.

Damals nahm die Welt Notiz von den Bränden, weil Aschewolken aus dem Amazonasbecken bis ins tausend Kilometer entfernte São Paulo getrieben waren und dort den Himmel verdunkelten. Die Feuer trafen zudem mit der Fridays-for-Future-Bewegung zusammen, die den Klimawandel stärker ins Bewusstsein der westlichen Öffentlichkeit rückte.

Brände im Gebiet rund um den Manicoré Fluss. 2019 fielen dort über 1900 Hektare Wald den Flammen zum Opfer. © Christian Braga / Greenpeace

Jair Bolsonaro reagierte auf charakteristische Art. Er leugnete damals die Zerstörung und behauptete, die Daten zur Erfassung der Feuer seien vom Forschungsinstitut Inpe manipuliert worden, um seinem Ruf zu schaden. Dann beschuldigte er Umwelt-NGOs, die Feuer gelegt zu haben. Sie würden von ausländischen Mächten gesteuert, die ein Interesse daran hätten, den Brasilianer:innenn ihr Amazonien wegzunehmen. Greenpeace beschimpfte er als «Dreck». Schließlich wurde das Militär in den Amazonas entsandt, das bei der Bekämpfung von Umweltverbrechen überhaupt keine Erfahrung hat.

Die umweltfeindliche Gesinnung der Bolsonaro-Regierung wurde noch klarer, als ausgerechnet Umweltminister Ricardo Salles während eines Kabinettstreffens 2020 vorschlug, die Aufmerksamkeit, die die Corona-Pandemie auf sich zog, auszunutzen, um die Umweltgesetze zu flexibilisieren. Er sagte, man könne jetzt «die Viehherde vorbei treiben». Salles verließ 2021 seinen Posten, weil er sich dafür stark gemacht hatte, eine riesige Ladung Baumstämme freizugeben, die wegen des Verdachts auf illegale Abholzung beschlagnahmt worden war.

Prägend für Bolsonaros Anti-Umweltpolitik war die gezielte Schwächung von Brasiliens Umweltbehörden Ibama und ICMBio sowie der Indioschutzbehörde Funai. Ihre Arbeit führte in den Nullerjahren zum langsamen, aber stetigen Rückgang der Waldvernichtung. Bolsonaro strich ihnen nun die Kompetenzen und besetzte Schlüsselpositionen mit Militärs ohne Qualifikation. Im Feld wurde hingegen Personal abgebaut.

Unter Bolsonaro wurden Mitarbeiter:innen der Ibama angegriffen und mussten die Umweltschutzbehörde ihrer eigenen Sicherheit wegen verlassen. © Marizilda Cruppe / Greenpeace

Die Schwächung der Umweltschutzbehörden ist eine der schwerwiegendsten Hinterlassenschaften Bolsonaros. Sie führte auch dazu, dass Mitarbeiter:innen dieser Behörden von Umweltverbrecher:innen angegriffen wurden. Viele engagierte Beamt:innen verließen Ibama und Funai, um ihre Arbeit auf eigene Faust fortzusetzen. Zu ihnen gehörte Bruno Pereira von der Funai, der mit den Indigenen des Reservats Vale do Javari eine Indigenenwacht leitete, um das Territorium vor Eindringlingen zu schützen. So geriet er ins Visier einer Umweltmafia, die in dem Reservat illegal fischte und jagte. Im Juni wurde Pereira gemeinsam mit dem britischen Journalisten Dom Phillips erschossen. Die Mörder dachten, dass sie im Brasilien von Jair Bolsonaro davonkämen. Ihr Kalkül wäre wahrscheinlich aufgegangen, wäre nicht der ausländische Reporter Phillips dabei gewesen.

Brutal ist auch die Bilanz, wenn es um die Freigabe von Agrargiften unter Bolsonaro geht. Seit 2019 wurden fast 1 800 Pestizide neu zugelassen (durchschnittlich 40,4 pro Monat). Darunter sind zahlreiche Produkte, die extrem schädlich für Bienen sind oder als so risikoreich für die menschliche Gesundheit eingestuft werden, dass sie beispielsweise in Europa oder den USA nicht zugelassen sind. In keinem anderen Land der Welt werden so viele Pestizide pro Kopf ausgebracht wie in Brasilien. Die meisten Agrargifte stammen von chinesischen und europäischen (hauptsächlich deutschen) Unternehmen.

Vorsichtiger Optimismus

Sollte am 1. Januar 2023 Lula da Silva als neuer Präsident Brasiliens vereidigt werden, dürfte sich die Umweltpolitik ändern. Lula hat bereits angekündigt, die Umweltbehörden wieder zu stärken und neue Indigenenreservate auszuweisen. Er wolle die Biodiversität Amazoniens nutzbar machen, um nachhaltiges Wachstum zu schaffen. Und er wolle mit der Mehrheit der verantwortlichen Agrarproduzent:innen zusammenarbeiten, um die unverantwortlichen Großbauern und -bäuerinnen, die den Wald zerstörten, in ihre Schranken zu weisen. Brasiliens Agrarexport hänge heute maßgeblich vom Image ab. Die Produktion müsse umweltfreundlicher werden.

Als erstes wird Lula aber beweisen müssen, dass seine Versprechen mehr als schöne Worte sind. Denn unter ihm und seiner Nachfolgerin Dilma Rousseff wurde einst der extrem umweltschädliche und umstrittene Riesenstaudamm Belo Monte mitten im Amazonaswald konstruiert. Lula sagt heute, dass er ihn wieder bauen würde.


Philipp Lichterbeck, Jahrgang 1972, lebt seit 2012 in Rio de Janeiro. Der freie Korrespondent und Reporter berichtet für deutsche, schweizerische und österreichische Medien über Brasilien und den Rest Lateinamerikas. 2013 erschien sein Buch «Das verlorene Paradies. Eine Reise durch Haiti und die Dominikanische Republik».

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